H O M E Berlin / Prenzlauer Berg, 1990. Fotos von Ulrich Wüst
Ich sehe was, was du nicht siehst
Von Annett Gröschner [Druckversion]







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 + zoom in Wenn die Häuser im Prenzlauer Berg sprechen könnten, hätte das Haus Kastanienallee 84 im Jahre 1990 angesichts der Fahnen mit dem herausgetrennten Symbol sicherlich das Nachbarhaus gefragt: »Das hatten wir doch schon einmal, kannst du dich noch erinnern, wann das war?« »Natürlich,« hätte das Nebenhaus geantwortet, »es war vor genau 45 Jahren, als die Russen kamen und die Leute das Hakenkreuzemblem von ihren roten Fahnen trennten und aus den Fenstern hängten.« »Bei mir hingen nur weiße Bettlaken.« »Diesmal scheinen sie nicht zu kapitulieren.«
 + zoom in Im Herbst 1999 betrat ich durch Zufall ein Haus in der Christinenstraße. Von außen war unschwer zu erkennen, daß es eines der wenigen noch unrenovierten in Prenzlauer Berg war. Als ich in den Hausflur kam, überfielen mich augenblicklich alle Gerüche, die ich in diesem inzwischen gänzlich entproletarisierten Bezirk schon ausgestorben glaubte: Bohnerwachs, Kohlen, Schweiß und Urin. Viel stärker als der Anblick der renovierten Häuser hielt mir dieses Geruchsgemisch vor, wieviel und wie schnell sich die Gegend in den letzten zehn Jahren verändert hat.

Mit der Besetzung des Bezirkes durch die Rote Armee Ende April 1945 hatte, bedingt durch die Verlangsamung des gesellschaftlichen Lebens, jene Konservierung eines Nachkriegszustandes begonnen, die durch die Mauer als Zeitgrenze bis 1989 erhalten blieb. Die Häuser waren verfallen, von den Fassaden platzte der Stuck, Balkone stürzten ab. Die Mauern wurden nur noch durch das Leben, das in ihnen stattfand, zusammengehalten. Wenn der letzte Bewohner auszog, fielen sie einfach in sich zusammen oder wurden - wie es in der damaligen Sprachregelung hieß - rekonstruiert: bis zur Unkenntlichkeit. Die Verwahrlosung aber bewahrte, vor allem in den Nebenstraßen, historische Zeugnisse - Einschüsse, alte Aufschriften über den Erdgeschoßzonen, gepflasterte Wege oder Nachkriegsschaufenster. Seit Jahren, manchmal Jahrzehnten, waren die Rolläden der Geschäfte heruntergelassen. Verblaßte Inschriften oder vergessene Schilder erzählten, was vor Zeiten hier gewesen, aber man hatte als junger Mensch keine Ahnung, wann die Gegenwart zur Vergangenheit geworden war.
 + zoom in Vor der Wende war ich achtlos an all diesen Hinterlassenschaften vorbeigegangen. Ich wußte, sie würden auch morgen noch an derselben Stelle sein. Was sich unter der Erde verbarg, wollte man eigentlich lieber nicht so genau wissen. Kamen die Leitungen dann doch einmal zum Vorschein, dann fragte man sich schon, warum nicht mehr Rohre platzten, warum das Licht meistens ging und keine Häuser aufgrund von Gasexplosionen in die Luft flogen.

Wie viele andere lebte ich mit den alten Öfen, den fünf Schichten Tapete an den Wänden und der alten Gasleitung, die sich bis zu den Rosetten in der Mitte der Zimmerdecke zog, wo einst die Gaslampe hing. Nachdem mehrmals Pläne zum flächendeckenden Abriß des gesamten Wohngebietes ad acta gelegt worden waren, blieb bis auf den Wiederaufbau im Krieg beschädigter und die Sanierung einzelner Gebäude der Komfort der Häuser bis auf notwendigste Reparaturen über Jahrzehnte der gleiche.

Die nach 1989 eingetretene Beschleunigung veränderte das Gesicht dieser Gegend in wahrnehmbarer Weise. Plötzlich wurden die Spuren der verschiedenen Vergangenheiten interessant, weil abzusehen war, daß sie bald verschwinden würden. Man wollte sie für einen kurzen Moment noch einmal festhalten, indem man sie auf vielfältigste Art dokumentierte.
 + zoom in Ulrich Wüst ging von Frühjahr bis Herbst 1990 mit seiner Kamera durch die Straßen des Prenzlauer Berg. Anders als von ihm bis dato gewohnt, fotografierte er in Farbe. Gerade deshalb vielleicht ist auf den Fotos zu erkennen, wie grau es eigentlich war, und ich erinnerte mich, damals immer mit schmerzenden Augen aus Westberlin gekommen zu sein - sie konnten sich lange nicht an die intensiven Regenbogenfarben gewöhnen.

Die Details dieses damaligen Lebens, die Ulrich Wüst im Frühjahr und Sommer 1990 festhielt, waren keine Besonderheiten, sie waren Alltag, beiläufig im Vorübergehen und ohne zu kommentieren aufgenommen. Auf den Fotos zum Stillstand verurteilt, waren die Dinge 1990 in Wirklichkeit in ständiger Bewegung. Das allgemeine Gefühl war, daß die Uhren rasten. Schon wenige Augenblicke später, am Tag der Währungsunion, wurden die Schaufenster, auf den Fotos noch leer oder mit den Hinterlassenschaften der DDR-Industrie bestückt, über Nacht bis zum letzten Winkel mit neuen Waren vollgestopft, und an den Scheiben drückten sich die Besitzer des neuen Geldes die Nasen platt.
 + zoom in  + zoom in Es war eine kurze Zeit der Anarchie. Noch schien nichts endgültig, die Mauer war offen, die wahlberechtigte Bevölkerung des Prenzlauer Berg hatte sich im Gegensatz zum Rest der DDR gegen die »Allianz für Deutschland entschieden«, und die verfallenen Häuser des Bezirks wurden von jungen Leuten besetzt, angelockt aus den Ost-, aber, zaghaft noch, auch aus den Westprovinzen. An den Häuserwänden spielten sich unsichtbare Kämpfe zwischen den Befürwortern und den Gegnern der deutschen Einheit ab. Hausbesetzer verbarrikadierten ihre Häuser, weil rechte Skinheads nach den Heimspielen des BFC Dynamo wie marodierende Banden die Schönhauser Allee herunterzogen. Währenddessen wir noch Anarchie spielten und autonome Republiken auf dem Kollwitzplatz gründeten, wechselten hinter unserem Rücken die Eigentumsverhältnisse. Sie haben die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung und das Gesicht der Häuser und Straßen in entscheidender Weise verändert.

Selten noch findet man heute in der Wirklichkeit die Motive wieder, die Ulrich Wüst damals aufnahm. Beim Betrachten der Fotos, zehn Jahre später, habe ich oft überIegt, wo dieses und jenes Motiv eigentlich gewesen ist. Wie es damals gewesen ist, daran hat jeder, der dabeigewesen ist, eine andere Erinnerung. Zehn Jahre später hat sich vieles in der Erinnerung verklärt. Die Fotos erzählen, daß es so schön nicht gewesen sein kann.

Trotzdem: wir waren zehn Jahre jünger, wir waren zum ersten Mal Subjekt der Geschichte, wir hatten Hoffnung, und wenn wir auf den Dächern spazieren gingen, war etwas zu spüren, was wir nie zugegeben hätten: ein Heimatgefühl. Für einen kurzen Moment gehörte diese triste graue Gegend uns.
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©   Text: Annett Gröschner; Website: Binder, Haupt, Wüst