Die Fotos von Ulrich Wüst aus Berlin Mitte

Von Matthias Flügge

  Ende der 70er Jahre tauchten in Ausstellungen und vereinzelt in Publikationen Fotografien von Ulrich Wüst auf. Wir schrieben bereits die aufkommende Spätzeit der DDR, und die Fotografie hatte gerade begonnen, sich aus den Umklammerungen eines propagandistischen Bildjournalismus in Richtung auf eine Kunstform zu emanzipieren. Das kulturelle Klima als Ausfluß politischer Möglichkeiten erlaubte im Osten für eine Weile den visuellen Gewinn einer Art Wahrheit mit beschränktem Geltungsbereich. Jedenfalls schien das so, weil soziale Normen und vermeintliche Gewißheiten in den Lichtbildern einer Gruppe jüngerer Fotografen befragt und untersucht wurden. Es ging den meisten von ihnen um die mit extremer Optik forcierte Neubestimmung eines entideologisierten Menschenbildes, um eine Weitwinkeltotale der wiederentdeckten Privatheit, die sie nun als das eigentlich Gesellschaftliche inszenierten.
Zu diesem Text

  Ulrich Wüst blieb dabei am Rande und fiel durch beharrliche Verwendung von 50-mm-0bjektiven auf. Der natürliche Blickwinkel zog seine eigenen Spannungsbögen. Da waren zum einen die tagebuchartigen fotografischen Skizzen aus dem jugendlich-intellektuellen Milieu des Prenzlauer Berges, wo sich eine Gegenkultur zu artikulieren begann. Und da waren - wichtiger noch - nüchtern beobachtende Bilder städtischer Räume, die zeitgleich als gebaute Heilsversprechen entstanden waren. Man sah kaum Menschen auf diesen Fotografien, die streng und mit höchstem Formbewußtsein komponiert sind. Wüst zeichnete Details der Begegnung des Alten mit dem Neuen - und diese Begegnung geschah, das wurde in jedem Bild deutlich, auf Kosten der historischen Substanz. Dabei unterschieden sich seine Fotografien von vergleichbar gerichteten Bestrebungen durch den sachlichen Blick des Analytikers. Immerhin hatte Ulrich Wüst etliche Jahre als Stadtplaner gearbeitet, ehe er sich gänzlich der Fotografie zuwandte, und er ist von daher mit der symbolischen wie mit der lebenspraktischen Bedeutung stadträumlicher Situationen und ihrer einzelnen Details vertraut.
  Ulrich Wüst, 1985

Ulrich Wüst, 1979
  Die Städte Ostdeutschlands trugen die Spuren des Krieges tiefer in die Zeit als die des Westens, weil sich die Strategien des Vergessens unterschieden. Gemeinsam war beiden aber der zerstörerische Hang zum sogenannten »Neuen«. Ulrich Wüst war einer derjenigen, die es in Bildern auch als Kategorie des Verlustes visuell bestimmten. Hier erlangten seine Arbeiten eine politische Dimension über die Form- und Sozialkritik an der architektonische Stupidität hinaus. Zugleich systematisierten sie gleichsam ein melancholisches Lebensgefühl. Sie waren aus der Distanz geschaut, selbst der Abschied lag schon hinter ihnen. Und noch etwas machte sie bedeutsam: Daß sie sich nicht dem kontemporären Gefühlsmulm auslieferten, an dem ein Teil unserer Generation damals seinen immanenten Widerspruch zum System erwärmte.
  Ulrich Wüst, 1996
  Auf Ulrich Wüsts Arbeit bezogen heißt das, daß er sich freihielt von allerorts lauernden Metaphern, um die Dinge und Details auf ihre wirkliche Qualität im Bezug zum (imaginierten) Leben zu befragen: Blöcke, Leeren, Perspektiven, Fluchten, das ganze formale Repertoire des Gestaltens mit Bildern vom Raum hat der Fotograf zu einer unaufgeregten Sprache gefügt, in der er Mitteilung über die prägenden Bedingungen sozialen Seins macht.
  Ulrich Wüst, 1995
  Zeiten rasanter Veränderung, so könnte man heute meinen, fordern diese Mitteilung deutlicher heraus. Ulrich Wüst reagierte auf die Nachwendezeit jedoch nicht mit journalistischer Eile, sondern im Gegenteil mit einem erneuten Versuch, Distanz zu bestimmen und zu gewinnen. Seine Bildfolgen »Pracht der Macht«,»Nachlaß« (1992) und »Abschlußball« (1992) rekonstruierten Beginn und Ende von individuellen Erfahrungsräumen neben der Zeit. Oberfläche, Gegenstand und Artefakt waren die zentralen Themen dieser »Trilogie«. Architektur als Bild ist, genau genommen, deren Zusammenfassung.
   
  Die Fotografien, die Ulrich Wüst nach der Wende aufnahm, versuchen an keiner Stelle, den Umbruch metaphysisch zu beschreiben. Wüst verharrt auf der Phänomenebene, es geht ihm eher um Zustandsprotokolle transitorischer Situationen. Die Stadt war in Bewegung gekommen. Wo früher der falsche Anspruch ewigkeitlicher Setzungen Signale der Erstarrung sandte, trat nun eine in ihren Auswirkungen noch nicht vorhersehbare Änderung der räumlichen Verhältnisse ein. Wohl weil Wüst das wußte, blieb er der Verlockung dieses Motivs gegenüber zurückhaltend. Für ein Buch, das Alexander Haeder über die Baugeschichte des Prenzlauer Berges geschrieben hat, fotografierte er 1992/93 einen eigenen Essay, der die Erfahrungen und Erkenntnisse mit und von diesem Quartier bildlich zusammenfaßt.
  Ulrich Wüst, 1990
  In Ulrich Wüsts künstlerischer Biographie kam die Beteiligung am Bewag-Kunst-Projekt genau zur rechten Zeit. Er war vorbereitet, die zweijährige Recherche über die rapiden Veränderungen der Berliner Innenstadt zu führen. Nun, ausgerüstet mit den Möglichkeiten präziser Einsicht, konnte er sich in die Rolle des Passanten zurückversetzen. Wege und Wanderungen durch Berlins Mitte ergaben nahezu täglich ein anderes Bild. Die Kamera in Augenhöhe und unter Vermeidung spektakulärer Aufnahmeorte fotografierte Ulrich Wüst mit lapidarer Gleichmütigkeit, wie das »Neue«, das nun auch das »Andere« wurde, sich über, in und durch die gewohnten Strukturen frißt. Er beobachtete, wie der Stadtraum seinen Charakter verändert, wie die Blockstruktur solitärer Bauten - mit den unglaublich großen innerstädtischen Freiflächen dazwischen - sich ineine räumliche verwandelt, die Begriffe wie Weite und Enge einer neuen Definition im alltäglichen Erfahrungsbereich unterzieht. Lücken und Freiflächen verschwinden, Atempausen werden abgekürzt, Nischen verschlossen. Der Fotograf vermeidet auch hier die Metaphern und er vermeidet belebte Situationen; der Prozeß des Veränderns geschieht scheinbar ohne menschliches Zutun. Die Häuser, Plätze und Straßenzüge wirken wie Kulissen. Dabei entstehen Bilder, die nicht nur dokumentarisch sind, sondern sich einem in den vergangenen 20 Jahren entstandenen Kontext künstlerischer Fotografie einfügen. Obwohl Ulrich Wüst sie nicht in die gängigen Ausstellungsformate vergrößert und in der kommerziellen Verwertung einzelner Prints eher den Verlust der Bildnachbarschaft bedauert, hat er eine unverwechselbare Ausdrucksform entwickelt, die das Einzelbild aus dem Zusammenhang seiner topographischen Beschreibungsfunktion doch löst. Der Passant ist kein Registrator, er folgt keiner touristischen Route. Er sieht den konkreten Ort als einen bildgemäßen. Und er erzählt zuweilen dabei Geschichten vom unerwarteten Zusammentreffen historisch geprägter Formen. Die Haut der Architektur trägt die Spuren ihrer Benutzer. So, nicht durch Dramatisierung und Personalisierung, wird der Ort als ein gelebter kenntlich. Wüst bevorzugt fallende Perspektiven oder die Frontale. Die von den Volumen der Bauten gebildeten negativen Räume faßt er skulptural, und man begreift, daß es in den neuen städtischen Strukturen ganz wesentlich um die Behauptung dieser Räume gehen wird. Gewiß, das »Neue« wird, wenn es, wie so oft in Berlin, von einer geradezu erschütternden architektonischen Banalität ist, auch in der obszönen Durchschaubarkeit der ihr zugrundeliegenden Interessen decouvriert - aber die wohlfeile (Ost)Nostalgie eines sentimentalen Antikapitalismus liegt dem Fotografen fern. Eher hat er die wunderbare Kälte seiner frühen Arbeiten wiedergewonnen - sie aber nun ganz in Formbewußtheit sublimiert. Es gibt nichts mehr zu bedienen, nur zu beobachten. Der Gewinn liegt in einer eigenen Idee vom Bild, die sich der äußeren Realität um ihrer selbst willen bedient. Der Stoff, aus dem der Osten war, ist nicht mehr als eben Stoff. Als solcher aber ist er längst nicht hinreichend untersucht. Das Bewußtsein dieser Historizität der Form macht Wüsts Fotografien aus der Mitte Berlins zu einem Zeitzeugnis, dessen einzelne Bilder auch dann noch Bestand haben werden, wenn ihre Motive längst verschwunden sind - und ein neues Bild der Stadt entstanden ist, dem wir in zwiespältiger Gestimmtheit entgegensehen.   Ulrich Wüst, 1993

Ulrich Wüst, 1995

Ulrich Wüst, 1995

Ulrich Wüst, 1996
Ulrich Wüst, 1999
 
Der Text ist das Nachwort zu dem Buch Berlin Mitte, Fotografien von Ulrich Wüst, mit einem Text von Wolfgang Kil und einem Nachwort von Matthias Flügge, Verlag der Kunst Berlin, Dresden 1998. Dieses Buch war Teil des von Kasper König kuratierten internationalen Kunstprojektes für den Neubau des Heizkraftwerkes Berlin-Mitte des Energieversorgers BEWAG. Die zweijährige Bildrecherche, die Ulrich Wüst für seinen Beitrag unternommen hat, ist auch in das Material dieser Präsentation eingeflossen.
©   Text: Matthias Flügge
Fotos: Ulrich Wüst, Website: Pat Binder, Gerhard Haupt

Berlin Mitte. Erkundungen eines Stadtumbaus

Home    Fotoessay    Projekt    Text    Autoren