Ulrich Wüst:
Berlin, 1989


Text von Matthias Flügge zur Präsentation im »Denkzeichen 4. November 1989«, Leuchtkasten auf dem Berliner Alexanderplatz, 16. November 2002 bis 28. Februar 2003

Ulrich Wüst fotografiert in der Stadt. Situationen der Nähe und solche des Abstandes. Seine Fotografien konstruieren die Stadt, indem sie ihren Vorrat an Zeichen in eine bildnerische Ordnung bringen. Solche Zeichen können Lebensspuren aus der Vergangenheit sein, Straßenschluchten oder Häuser oder politische wie wirtschaftliche Machtzentralen oder die Leere, die keine Abwesenheit ist, sondern selbst ein Zeichen in der Stadt. Wüsts Zeichen stehen für komplexe Bedeutungen. Dies um so mehr, je konkreter sie lesbar sind. So auch bei diesem Detail des Thälmanndenkmals des russischen Bildhauers Lew Kerbel. Es war in der Endzeit der DDR ein ungeliebtes Geschenk, es erschien uns als Gipfel der Scheußlichkeit staatlichen Denkmalfurors. Wir bemühten uns wegzusehen. Nicht so Ulrich Wüst. Bald nach der Aufstellung hat er den Koloss fotografiert. Im Bild sah man das Denkmal neu. Es zeigt nicht nur die Lächerlichkeit der pathetischen Geste, es zeigt vor allem deren welthistorische Verspätung. Trauriger Thälmann mit der tapsig zaghaften Kämpferfaust. Tonnen von Bronze brauchte Kerbel, um das Scheitern in seine Form zu gießen. Hat er es bemerkt? Wohl kaum. Und doch weist die Geste der Faust auf nichts anderes als das nahe Ende dessen, was sie erstreiten wollte. Kunst kann die Wirklichkeit nicht betrügen. Nur sich selbst - wie hier. Vielleicht hat das Denkmal deshalb den Bildersturm der Nachwendezeit überlebt. Andere, weit bessere wurden abgeräumt. Thälmann muß stehenbleiben. Er hat das nicht verdient. Aber wir.



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©   Text: Matthias Flügge

Webpräsentation:
uinic - Pat Binder, Gerhard Haupt

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Denkzeichen 4. November 1989