Geleitwort

Als am 4. November 1989 viele hunderttausende Menschen ihre demokratischen Ansprüche auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit einforderten, gewannen sie nicht nur öffentlich ihre Sprache, sie gaben zugleich auch dem städtischen Raum seinen öffentlichen Charakter zurück, als Ort der Begegnung, des Gesprächs und der Selbstdarstellung einer sich emanzipierenden Bürgerschaft.

Der 4. November steht für die heroische Illusion des gesellschaftlichen Umbruchs in der damaligen DDR. Zehn Jahre danach besteht die Chance, sich mit Stolz der historischen Aktion zu erinnern, sich mit rückhaltloser Offenheit von den Selbsttäuschungen zu verabschieden und sich zugleich der uneingelösten Hoffnungen zu erinnern. Erst die gewonnene politische Freiheit lässt die Frage nach der Demokratisierung der Demokratie präzise stellen. Der 4. November entzieht sich linearen und/oder parteipolitisch dominierten Geschichtsdeutungen und kann daher ein Potenzial der andauernden selbstkritischen Befragung der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft sein.

Das Bezirksamt Mitte sieht sich als kommunale Körperschaft und als »Eigentümer« des Alexanderplatzes in der besonderen Verantwortung, an das einzigartige historische Ereignis am Ort selbst zu erinnern.

Anders als bei der in den Boden des Alexanderplatzes eingelassenen Gedenktafel am Standort einer Barrikade aus der demokratischen Märzrevolution von 1848, soll an den 4. November 1989 durch ein aktives Denkzeichen, durch wechselnde Kunstwerke in einem Werbeleuchtkasten, erinnert werden. War der Alexanderplatz am 4. November 1989 unmittelbar ein politischer Raum, so hat sich das öffentliche Gedenken im Stadtraum heute gegenüber der Allmacht des Kommerziellen zu behaupten: »Kunst statt Werbung« ist daher auch ein ironischer Kommentar auf den Verlust des öffentlichen Raums und auf die Dominanz der Werbung gegenüber der Kunst.

Demokratische Ansprüche formulieren und durchsetzen, neue Ausdrucksformen gewinnen und den öffentlichen Raum der Stadt gemeinschaftlich neu aneignen, das bleiben zwei Seiten eines Vorgangs. Die Geschichte geht weiter.

Dr. Thomas Flierl

Bezirksstadtrat für Ökologische Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen im Bezirksamt Mitte von Berlin
Initiator des »Denkzeichens 4. November 1989«

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©  Dr. Thomas Flierl

Siehe auch:

Wir waren das Volk
Alexanderplatz, 4. November 1999
Geschichte im Stadtraum: Eine Initiative des Bezirksamtes Mitte

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Denkzeichen 4. November 1989