Demonstration und Kundgebung
am 4. November 1989


Am Morgen des 4. November 1989 zogen etwa 500.000 Demonstranten (zuweilen ist sogar von knapp einer Million die Rede) durch die Ostberliner Innenstadt, vorbei an der Volkskammer und am Staatsratsgebäude. Zum Abschluss fand eine Kundgebung auf dem Alexanderplatz statt, bei der zahlreiche Rednerinnen und Redner das Wort ergriffen.

Die Demonstration mit der Abschlusskundgebung ist ein Höhepunkt der Demokratiebewegung in der DDR. Die Idee dazu entstand im Neuen Forum (Oppositionsbündnis, gegründet im September 1989), die Trägerschaft und Organisation übernahmen Berliner Kulturschaffende. [1]

Von den Organisatoren war die Veranstaltung offiziell angemeldet worden, um die in der Verfassung der DDR zwar verankerten, aber von der Staatsmacht nie gewährten Grundrechte auf Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit einzuklagen. Mit der Polizei, die kaum in Erscheinung trat, war eine Sicherheitspartnerschaft vereinbart worden, Schauspieler mit grün-gelben Schärpen und der Aufschrift »Keine Gewalt« wirkten als Ordner.

»Noch nie hatte Berlin so viel gemeinschaftliche Entschlossenheit, spontanen Einfallsreichtum und bei aller Radikalität auch Besonnenheit erlebt.« [2] Viele Demonstranten brachten ihren Unmut und ihre Forderungen auf originellen Transparenten zur Geltung. Auch in den Reden auf dem Alexanderplatz wurden radikale Reformen gefordert. »Die Strukturen dieser Gesellschaft müssen verändert werden, wenn sie demokratisch und sozialistisch werden sollen. ... Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft, auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist!« (Christoph Hein) [3]

Henning Schaller, einer der Organisatoren, erzählte später: »Schon im Voraus hatte es handfeste Diskussionen und Unstimmigkeiten dazu gegeben, wen man ... reden lassen soll. Redner wie Markus Wolf, Günther Schabowski und Manfred Gerlach wurden von vielen kritisiert. Ich aber war der Meinung, dass das Rednerspektrum so breit gefächert sein sollte, wie das, das die gesamte zu Ende gehende DDR zu bieten hatte ... Immer wieder mussten wir dann aber die bei den Hardlinern aufbrausende Menschenmenge auffordern, sie reden zu lassen und genau zuzuhören, denn oft genug entlarvten sich diese Redner selbst.« (Henning Schaller) [4]

Erstmals wurde eine Demonstration der Demokratiebewegung vom Fernsehen der DDR live übertragen, wobei der Kommentator u.a. konstatierte: »Das Volk hat seine Sprachlosigkeit überwunden«. Am selben Tag fanden auch in vielen anderen Städten der DDR große Protestkundgebungen statt.

»Der 4. November wird zum Markstein. Von nun an kann die SED-Führung an den Forderungen der Massen nicht mehr vorbei, geht es nicht mehr zu alten Herrschaftspraktiken zurück.« [5]

Anmerkungen:

[1] Jutta Seidel, Gründungsmitglied des Neuen Forums. In: Bilderchronik der Wende, hrsg. von Hannes Bahrmann und Christoph Links, Christoph Links Verlag, Berlin 1999, Seite 36 up
[2] Hannes Bahrmann, Christoph Links: Chronik der Wende, Christoph Links Verlag, Berlin 1994, Seite 79 up
[3] Christoph Hein in seiner Rede am 4.11.1989. Website des Deutschen Historischen Museums, Berlin up
[4] Zitiert nach: Bilderchronik der Wende, hrsg. von Hannes Bahrmann und Christoph Links, Christoph Links Verlag, Berlin 1999, Seite 36 up
[5] Hannes Bahrmann, Christoph Links: Chronik der Wende, Christoph Links Verlag, Berlin 1999, Seite 64 up

Zitate

Stefan Heym:
»... es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengedresch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.« ... »Einer schrieb mir - und der Mann hat Recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.«
Stefan Heym, Website des Deutschen Historischen Museums, Berlin

Christa Wolf:
»Das 'Staatsvolk der DDR' geht auf die Straße, um sich als 'Volk' zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen - der tausendfache Ruf: Wir - sind - das - Volk! Eine schlichte Feststellung. Die wollen wir nicht vergessen.«
Christa Wolf, Website des Deutschen Historischen Museums, Berlin

Rednerinnen und Redner
in der Reihenfolge ihres Auftretens:
(Tätigkeit im November 1989)
up

Marion van de Kamp (Schauspielerin)

Johanna Schall (Schauspielerin)

Ulrich Mühe (Schauspieler)

Jan Josef Liefers (Schauspieler)

Gregor Gysi (Rechtsanwalt)

Marianne Birthler (Katechetin, Initiative für Frieden und Menschenrechte)

Kurt Demmler (Sänger, sang das Lied »Irgendwer ist immer dabei«)

Markus Wolf (Generaloberst a.D. des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR)

Jens Reich (Molekularbiologe, Gründungsmitglied Neues Forum)

Manfred Gerlach (Vorsitzender der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands)

Ekkehard Schall (Schauspieler)

Günter Schabowski (1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Mitglied des Politbüros)

Stefan Heym (Schriftsteller)

Friedrich Schorlemmer (Theologe)

Christa Wolf (Schriftstellerin)

Tobias Langhoff (Schauspieler)

Annekathrin Bürger (Schauspielerin, sang »Worte eines politischen Gefangenen an Stalin«)

Joachim Tschirner (Dokumentarfilmregisseur)

Klaus Baschleben (Journalist)

Heiner Müller (Schriftsteller)

Lothar Bisky (Kulturwissenschaftler, Rektor der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg)

Roland Freitag (Student, Humboldt-Universität zu Berlin)

Christoph Hein (Schriftsteller)

Robert Juhoras (Student, Universität Budapest)

Konrad Elmer (Dozent)

Steffi Spira (Schauspielerin)

Links, Literaturhinweise

Redner und Reden
Website des Deutschen Historischen Museums, Berlin

Chronik der Wende
Website zur Fernsehdokumentation des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg, ausgestrahlt allabendlich vom 6. Oktober 1999 bis zum 18. März 2000

Hannes Bahrmann, Christoph Links:
Chronik der Wende: die Ereignisse in der DDR zwischen 7. Oktober 1989 und 18. März 1990
Christoph Links Verlag, Berlin 1999

Hannes Bahrmann, Christoph Links:
Bilderchronik der Wende. Erlebnisse aus der Zeit des Umbruchs 1989/90
Christoph Links Verlag, Berlin 1999



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©  uinic: Pat Binder, Gerhard Haupt

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Denkzeichen 4. November 1989