Pablo Helguera:
Simple Gifts


Text zur Präsentation im »Denkzeichen 4. November 1989«, Leuchtkasten auf dem Berliner Alexanderplatz, 14. August bis 3. November 2002

"Simple Gifts" (einfache Gaben) ist ein bekanntes Lied der Shaker aus dem 19. Jahrhundert. Die religiöse Gruppe der amerikanischen Shaker (offiziell: United Society of Believers of Christ's Second Appearing) siedelte sich ab 1776, aus England kommend, zuerst im Norden des Bundesstaates New York an. Die Shaker glaubten an ein Leben im Zölibat und in Tugend und haben sich in der Architektur sowie der Herstellung von Möbeln und Kunsthandwerk hervorgetan. Durch die Art, wie sie ihren Körper beim Tanzen bewegten, wurden sie als "Shaking Quakers" bekannt.

Die Gruppentänze der Shaker, wie der "hollow square dance", dessen Ablauf oben im Bild schematisch dargestellt ist, fanden in ihren Meeting Houses statt. Auf dem Foto erscheint das Gemeinschaftshaus in Watervliet, Bundesstaat New York, einer der ältesten Niederlassungen der Shaker in den USA. Obwohl die Shaker im Grunde nicht mehr als praktizierende religiöse Gruppe existieren, ist dieses Haus als eines der letzten seiner Art und damit als eines der ältesten Beispiele öffentlicher Architektur im Staate New York erhalten geblieben.

Die Lieder und Tänze der Shaker, wie "Simple Gifts", fassen ihre Ethik der Toleranz und Liebe zusammen, wozu das Bekenntnis zur Gleichheit der Geschlechter und Rassen gehört. Aaron Copland bezog "Simple Gifts" in seine Komposition "Appalachian Spring" (1943-44) ein, die er im 2. Weltkrieg für das Ballettensemble von Martha Graham schrieb. In diesem Werk suchte Copland die Basis eines amerikanischen Idioms.

In den letzten Monaten habe ich mich vor allem damit beschäftigt, wie sich Künstler auf tragische Ereignisse beziehen und daraus resultierende kollektive Befindlichkeiten zusammenfassen. Hinzu kommt die andauernde Debatte in New York, was für eine Gedenkstätte an der Stelle gebaut werden soll, wo der terroristische Anschlag stattgefunden hat. Der Platz, an dem das World Trade Center stand, hat eine für die Geschichte der Stadt unumgehbare Bedeutung erlangt.

Im letzten Jahr haben wir die Instabilität einer Welt erfahren, in der fundamentale Widersprüche zwischen unseren Friedensbekenntnissen und dem fortwährenden Streben nach persönlichen Vorteilen fortdauern, und dies vor allem in der globalen Ökonomie, die von einer Politik der USA implementiert wurde, die den Interessen des Krieges den Vorzug gegenüber denen der kulturellen Verständigung gibt.

Im Nachdenken darüber ist mein Ausgangspunkt die introspektive und retrospektive Frage danach, wie viele Probleme der Welt dadurch entstanden sein könnten, dass es eine Diskrepanz zwischen der von den amerikanischen polititischen Intellektuellen vertretenen internationalen Philosophie und den modernen Ideen von Gerechtigkeit und Gleichheit gibt, die unseren zeitgenössischen Gesellschaften tatsächlich zugrunde liegen.

Das Lied der Shaker aus alter Zeit kam mir als eine Aussage der Wahrhaftigkeit und Einfachheit in den Sinn, als ein Ausdruck dafür, dass der Gabe der Freiheit mehr Wertschätzung entgegen gebracht werden sollte. Nach meinem Dafürhalten verweist es auch auf einen in einem gewissen Maße paradoxen Kontrast zwischen den Prinzipien von Demokratie und Freiheit, die der von den europäischen Immigranten aufgebauten Idee der Vereinigten Staaten zugrunde liegt, und der internationalen modernen Demokratie.

Es ist heutzutage wichtig, sich des humanistischen Weltverständnisses der Shaker zu erinnern, einer Gruppe, die vor zwei Jahrhunderten in New York ankam. Zusätzlich zur Botschaft des Liedes erlangen der "Hollow Square Dance" (etwa: Leerer-Platz-Tanz) und die Architektur des alten Gemeinschaftshauses Bedeutung, wenn sie zum Vakuum des leeren Platzes in Lower Manhattan in Beziehung gesetzt werden. Wenn wir danach fragen, wie diese Leere zu füllen ist, weisen sie auf die Möglichkeit, sich auf die philosophischen Ausgangspunkte der modernen humanen Werte zurückzubesinnen.

Da dieses Projekt auf dem Alexanderplatz als "Denkzeichen" für ein Ereignis im Kampfes für die Freiheit gedacht ist, würdigt mein jetzt darin gezeigtes Werk den Fortbestand der Idee von Toleranz und das Streben nach Gleichheit für alle, vor allem in schwierigen Zeiten.



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© uinic - Pat Binder, Gerhard Haupt

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Denkzeichen 4. November 1989