Foto: Karin Plessing

Lutz Dammbecks Herakles-Konzept

von Eckhart Gillen

Lutz Dammbeck, 1948 in Leipzig geboren, begann 1982 mit der Arbeit am Herakles-Konzept als einer »Archäologie der Erinnerung«, für die er die unterschiedlichsten künstlerischen Techniken von Collage, Installation, Malerei, Literatur, Animations- und Dokumentarfilm bis zur ungewöhnlichen Form der Mediencollage einsetzt.

In der Spiegelung einer Märchenfigur mit einer mythischen Sagenfigur gelingt Dammbeck die Dekonstruktion der idealistischen Konstruktion des »Neuen Menschen«, womit er ihr hoffentlich definitives Scheitern 1989, 200 Jahre nach der Französischen Revolution, künstlerisch vorwegnahm. Die schwarze Pädagogik der Gebrüder Grimm in ihrem Märchen »Vom eigensinnigen Kind« bestraft den Eigen-Sinn mit dem Tod als Ultima Ratio des gescheiterten Erziehers. Diese Erziehungsmethode endete bekanntlich in Auschwitz und im Gulag: Das Lager als Institution zur Ausmerzung des nicht modellierbaren Menschen. Auf den Eigen-Sinn als die Fähigkeit, seine fünf Sinne in eigener Verantwortung zu gebrauchen, folgt die Strafe aber auch die Chance, die schützende Höhle von »Vater Staat« und »Mutter Partei« zu verlassen, um fortan nur noch den eigenen Sinnen zu vertrauen.

Im Kampf der Tänzerin Fine Kwiatkowski als Verkörperung des eigensinnigen Kindes mit den schroff im Raum stehenden, auf Gerüsten montierten Reproduktionen der metallischen Köpfe Arno Brekers wird das Psychodrama der Individuation konfrontiert mit dem gesellschaftlich antrainierten Muskelpanzer des soldatischen Männertyps der Weltkriege, den nur die Uniform zusammenhält. Am Ende Ihrer Aktion zerstört Fine die starren Gerippe und kehrt zurück in den schützenden Kokon des Tetraeders, an dessen transparenter Folie sich unscharf ein stummer Schrei abzeichnet (vgl. Bildmotiv des Leuchtkastens).

Der Text »Herakles 2 oder die Hydra« von Heiner Müller überlagert wie eine Übermalung den Märchentext der Gebrüder Grimm. Herakles als mythische Figur des »Übermenschen« durchstreift den Wald »allein in die Schlacht mit dem Tier«. Doch dann stellt er fest, »der Wald war das Tier«, das an ihm von Kopf bis Fuß Maß nahm. Heiner Müller beschreibt, wie die gesellschaftlichen Machtverhältnisse den Körper vermessen und kolonisieren und damit auch seine eigene Verstrickung. Die nicht mehr in Gestaltzusammenhängen fassbaren Konflikte erzeugen ein Grauen, eine Sogwirkung, die dem Subjekt die Faszination zeigt, subjektlos zu werden.

Herakles wird gewahr, dass er Teil der Hydra geworden ist, mitverantwortlich für das Funktionieren des Unheils. Herangewachsen im Leib der Hydra, ist er gefangen wie geborgen in deren Schoß. Als er beginnt, »sich 'abzunabeln', den schützenden wie ihn haltenden Schoß zu verlassen, um eine neue, eigene Identität zu gewinnen, gerät er in Konflikt mit der Hydra. Zugleich fürchtet er sich Nein zu sagen und beginnt, sich im vorauseilenden Gehorsam selbst 'umzubauen'«. (Lutz Dammbeck)

Bei seinen Recherchen zur Mediencollage »Herakles« stieß Dammbeck zwangsläufig auf Analogiesituationen zwischen NS-Staat und SED-Staat. Die »Kindheitsmuster« der Elterngeneration aus der Nazi-Zeit setzten sich im DDR-Alltag als tägliche Entmündigung, Doppelmoral und Angst fort. Gab es so etwas wie eine Wiederholung des NS-Systems mit einem ganz anderen politischen Vorzeichen, nur noch geheimnisvoller, noch unaussprechlicher, noch verbotener? Der Irrsinn eines programmatisch antifaschistischen Staates, der selbst faschistische Züge zeigt, brachte die Generation der Nachkriegskinder in eine Zerreißprobe zwischen der Zustimmung zum Antifaschismus und der Ablehnung der totalitären Repression.

Durch die Ausblendung des nationalsozialistischen Alltags aus der antifaschistischen Erziehung wurde die strukturelle Verwandtschaft der beiden deutschen Diktaturen mit ihren totalitären Methoden der Überwachung, Verführung und Unterwerfung, mit denen die Bevölkerung zu einer »Volksgemeinschaft« bzw. »sozialistischen Menschengemeinschaft« formiert werden sollte, tabuisiert.

Dammbecks Montieren und Kombinieren von Bildern, Gefühlen, Daten, Familiengeschichten, Mythos und Märchen zu einem »feinen, schwebenden Gespinst«, für das es eine Form zu finden gilt, ohne es dabei zu zerstören, behauptet nicht: so ist es gewesen, sondern eher: so hätte es gewesen sein können. Denn in dem Moment, in dem wir von Wahrheit sprechen, schließen wir andere Auffassungen aus. Ohne das Banner der Wahrheit könnten wir vermutlich alle friedlich miteinander leben.



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©   Text: Eckhart Gillen
Foto: Karin Plessing
Website: uinic - Pat Binder, Gerhard Haupt

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Denkzeichen 4. November 1989